[MWS]: Zur Diskussion gestellt....

Bernd Enders Bernd.Enders at rz.Uni-Osnabrueck.DE
Die Nov 3 12:49:23 CET 1998


FAZ, 3.11.98, S. 47

Wohin der Klang seine Zinsen trägt.
Profit der Tonkunst: Die Geslleschaft für Musikforschung denkt in Halle
auch ans Materielle

In seinen Überlegungen zu ,,Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft"
kam Guido Adler 1885 zu dem Schluß:
,,Mit dem Stand der Tonkunst wechseln die Aufgaben der Musikwissenschaft."
Um diese angemessen erledigen zu können, teilte der österreichische
Musikforscher die Fachgebiete in eine historische und eine systematische
Richtung ein. Diese noch heute gültige Gliederung hat zu einer stetigen
Auffächerung geführt. Mittlerweile stehen Musikethnologie, -psychologie
oder -soziologie gleichwertig neben der historischen Ausrichtung des Fachs.
So wuchsen die von Adler noch als ,,Hilfswissenschaften" bezeichneten
Zweige in der relativ kurzen Geschichte der Disziplin zu Ästen mit Trieben
und weltweiten Ablegern heran.

Die Musikwissenschaft mußte ihre Methoden den neuen musikalischen und
gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen, wenn sie mit der Musik ihrer
Zeit Schritt halten wollte. Freilich meinte Adler mit seiner Formulierung
vom "Stand der Tonkunst" alles andere als einen innovativen
Materialbegriff, der zeitweise vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, das
zeitgenössische Komponieren bestimmte. In Adlers modernem Denken spiegelt
jede Erscheinung des Musiklebens den Stand der Tonkunst partiell wider. Daß
die Musikwissenschaft nicht als ,,ein Anhängsel anderer wissenschaftlichcr
Disziplinen" ein Schattendasein unter dem Dach der Alma mater führte, wie
es der Bach-Biograph Philipp Spitta zwei Jahre vor Adlers Aufsatz in der
königlichen Akademie der Künste zu Berlin beklagte, gründet vor allem auf
Adlers methodisch differenzierter Ausrichtung des Fachs, die weitsichtig
den Weg ins zwanzigste Jahrhundert ebnete.

Nun allerdings müssen die Weichen für die Aktualität und den Fortbestand
der Disziplin für das nächste Jahrhundert neu gestellt werden, was aus
wirtschaftlichen Gründen zur Zeit nicht leicht fallen dürfte. An den
deutschen Universitäten werden die kulturwissenschaftlichen Fächer streng
auf ihre Effizienz hin abgeklopft. Frei werdende Stellen werden eingefroren
oder fallen weg. Durch den fehlenden wissenschaftlichen Mittelbau werden
die Institute ausgetrocknet. Sich selbständig eine fundierte Meinung zu
einem selbstgewählten Thema zu bilden und diese auch vertreten zu können:
diese Grundvoraussetzung wissenschaftlichen Arbeitens ist bei dem auf die
Forschung übertragenen profitorientierten Oberflächendenken nicht mehr
gefragt. So wird der von inhaltlosem Pragmatismus gespeiste
Legitimierungsdruck auf die Musikforschung immer größer.

Andererseits steigt in einer immer unüberschaubareren Welt der Bedarf an
einer ordnenden und bewertenden Vorinstanz für all das, was als Musik
daherkommt. Mit ihrem alle fünf Jahre stattfindenden internationalen
Kongreß, der diesmal vom Institut für Musikwissenschaft der Martin
Luther-Universität Halle-Wittenberg ausgerichtet wurde, stellte sich die
,,Gesellschaft für Musikforschung" der Frage nach "Umfang, Methode und Ziel
der Musikwissenschaft" auf der Schwelle ins neue Jahrhundert. Unter dem
Kongreßthema "Musikkonzepte - Konzepte der Musikwissenschaft" wurde in
Kolloquien und Referaten nicht nur Adlers Fporderung bestätigt, die
Aufgaben der Stand der Tonkunst anzupassen; es kam auch zu einer Öffnung
der historischen zur systematischen Musikwissenschaft. 
Genau das forderte der Hauptreferent Ludwig Finscher nachdrücklich in
seinen "Bemerkungen zur Lage der deutschen Musikwissenschaft" mit Blick
nach Amerika: Dort ist die Verbindung beider in  Richtungen zum Standard
der Institute geworden.

Halle war nicht nur wegen seiner techisch auf dem neuesten Stand
ausgestatteten Räumlichkeiten in behutsam restauriertem historischem
Ambiente als Ort der 	wissenschaftlichen Begegnung gut gewählt; das dortige
Institut spiegelt mit seinen Professuren für Historische (Wolfgang Ruf) und
Systematische Musikwissenschaft (Heiner Gembris) und einer geplanten
Professur für Musikethnologie den umfangreichen Fächerkanon der Disziplin
und die thematisch auf Verständigung angelegte Ausrichtung des Kongresses
wider. Der hohe Anteil maßgeblicher Forscherpersönlichkeiten aus Übersee,
England und den osteuropäischen Ländern sorgte seinerseits für ein durchweg
freundschaftliches Klima während sechs anregender Kongreßtage.

Bei  unterschiedlichen  Themen ,,Klangbilder",  ,,Musik-Sprache-Rhetorik",
,,Musikpsychologie heute", ,,Macht der Musik: Magie und Mythos",
,,Musikkulturlandschaften" oder dem lokal begründeten, von seiner Bedeutung
her jedoch weitreichenden Thema ,,Pietismus als musikhistorisches Problem"
verlor man den Musik erfindenden oder rezipierenden Menschen innerhalb
seiner Lebenswelten nicht aus dem Blick. Auch zwischen den einzelnen
Diskussionsrunden kam es zu ungeplanten, um so erfreulicheren
Berührungspunkten. So stellte Erik Fischer Bonn) im Kolloquium
,,Klangbilder" die in der bildenden Kunst voranschreitende, das
Musikalische einbeziehende Kommunikation über Klänge heraus. Volker Kalisch
(Düsseldorf) beschrieb in der musikanthropologischen Diskussion über die
,,Macht der Musik" die Musik als einen sozialen Raum, ,,in dem menschliches
Handeln erst möglich wird" und in dem der Klang schließlich wieder zum
Innersten des Menschen zurückkehrt.

Das Themenspektrum der von Helmut Rösing geleiteten Runde zu den
musikalischen Lebenswelten Jugendlicher reichte von einer Beurteilung der
Rolle der populären Musik in Bulgarien vor und nach der politischen Wende
(Claire Levy, Sofia) über die Beziehung zwischenTechno-Musik und Trance
(Ansgar Jerrentrup, Wuppertal) bis zur Ästhetik von Videoclips, zum Problem
rechtsradikaler Rockmusik und zur Selbstsozialisation Jugendlicher.

Freilich ist durch Adlers strenge Trennung zwischen historischer und
systematischer Musikwissenschaft auch eine Abkapselung der einzelnen
Gebiete entstanden. Der Kongreß bemühte sich um die längst übertällige
Überwindung dieser Kluft. Als Beweis kann die Anwesenheit des großen weisen
Mannes der Musikethnologie, des mittlerweile achtzigjährigen Ki Mantle Hood
(MarylandIUSA), bewertet werden. Er forderte die westliche Musiktheorie
auf, ihren Horizont um das östliche Musikdenken ohne koloniale Attitüde zu
erweitern: ,,Music is Music, East or West."   

ACHIM HEIDENREICH


-- 
Prof. Dr. Bernd Enders

Universität Osnabrück
Forschungsstelle Musik- und Medientechnologie
Schloß, Neuer Graben, D-49069 Osnabrück

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